Von: Jessica Kourdoni
Resolution zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht
Am 9. November 1938 machte sich das deutsche Volk an ihren jüdischen Mitbürger*innen schuldig.
Sie taten es nicht, indem sie zusammen mit den Schergen der Nationalsozialisten Steine auf jüdische Geschäfte warfen und Synagogen anzündeten. Sie taten es nicht, weil sie Menschen töteten oder bei ihrer Entführung halfen. Sie taten es, weil sie schweigend im Bett liegen blieben und hinnahmen, was dort auf ihren Straßen passierte. Sie taten es, indem sie jede der auf diesen Tag folgenden Repressionen gegen jüdische Mitbürger*innen akzeptierten.
Es war der Anfang einer grausigen Rationalität, mit der die Nationalsozialisten ihren Plan, die Welt judenfrei zu machen, zu einem großen Teil in die Tat umsetzten. Der Holocaust war das Ergebnis eines sich über Jahrzehnte entwickelten Antisemitismus, der geprägt war von Verschwörungstheorien, Sündenbock-Mentalität und gesellschaftlicher Exklusivität, zu der Menschen jüdischer Herkunft nicht gehören sollten.
Der Jude war an allem Schuld. An der Armut des Fabrikarbeiters, an dem durch Spekulationen ruinierten Mittelständler, am Verlust von Kolonien, an den Kriegen. Der Mythos einer jüdischen Weltherrschaft, die im Verborgenen agiert und alle Fäden der Macht in der Hand hält, war nur eines der unausrottbaren Narrative des 19. und 20. Jahrhunderts.
Der Antisemitismus zog sich dabei durch sämtliche Gesellschaftsschichten. Die Perversion ging sogar soweit, dass sich die feine bürgerliche Gesellschaft jüdische Mitbürger*innen in die Salons einlud, um sich an ihrer Verruchtheit zu gruseln.
Der Makel, Jude zu sein, machte sogar vor Denkern und Schriftstellern wie Heine, Kafka und Marx nicht halt, die Zeit ihres Lebens ein zwiegespaltendes Verhältnis zu ihrer jüdischen Abstammung hatten. Eine intellektuelle Auseinandersetzung und politische Gegenbewegung wurde dadurch unmöglich. Der Diskurs über das Judentum in Europa wurde vor allem von den Nichtjuden geführt.
Das Judentum wurde zur Projektionsfläche aller Probleme, die die Industrialisierung und der ungezügelte junge Kapitalismus mit sich brachten. Erst dieser in der Mitte der Gesellschaft akzeptierte Antisemitismus machte es für Populisten zu einem leichten Spiel, einfache Antworten auf komplexe Veränderung zu finden.
Generalprobe all dessen, was in den 30er/40er Jahren des 20. Jahrhunderts geschehen sollte, stellte die Dreyfus-Affäre in Frankreich dar. Der bis dato einzige jüdische Offizier der französischen Armee Alfred Dreyfus wurde des Landesverrates angeklagt und verurteilt. Obwohl seine Unschuld einwandfrei bewiesen wurde, führte das nicht zu einem Freispruch, sondern zu einer beispiellosen Verrohung der politischen Sitten, die in Krawallen, Bedrohungen gegenüber den Befürwortern, politischen Mauscheleien und medialen Hetzkampagnen endete. Wichtigster Treiber war der Mob, der im Gegensatz zur schweigenden Mehrheit lauthals auf die Straße ging und sich dem Anschein gab, das Volk zu sein. So stellte Hannah Arendt fest, dass es einer der Grundirrtümer der Politik dieser Zeit war, diesen Mob für das Volk zu halten und ihm wie ein Schaf hinterherzulaufen.
Wer hier keine Parallelen zu aktuellen Ereignissen in Chemnitz, in den europäischen Parlamenten und dem Antiislamismus sieht, der muss auf beiden Augen blind sein.
Die Geschichte wiederholt sich nicht, jedoch wiederholen sich Mechanismen, die wir überwinden müssen. Denn tun wir das nicht, und vor allem nicht jetzt, wird es wie damals normal sein, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft per Definition verdächtigt werden Betrüger, Verbrecher und Terroristen zu sein. Anfänge davon finden wir ja schon in so mancher Gazette, die vordergründig die Herkunft eines Kriminellen thematisieren.
Erst die Definition von Deutschem und Nichtdeutschem hat die jüdischen Mitbürger*innen des 17. und 18. Jahrhunderts in diese prekäre Situation gebracht, die sie zu Menschen zweiter Klasse degradierte. Also was soll diese blödsinnige Diskussion heute, ob der Islam zu Deutschland gehört? Als hätten wir nichts daraus gelernt. Ganz ehrlich: Alle Menschen, die hier leben, gehören zu Deutschland!
Und wie bekommen wir es mit unserem Gewissen vereinbart, dass wir vor den Toren Europas Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen? Hilfesuchende, Kinder, lebende Menschen!
Der 9. November sollte daher unser Mahnmal sein, dass jede unserer Handlungen, Gedanken und Worte historische Konsequenzen haben können. Lassen wir es nicht zu, dass zwischen Menschen und Kulturen Grenzen gezogen werden. Stehen wir für eine vielfältige, gerechte und freie Gesellschaft, in der Scharlatane, Demagogen und menschenverachtendes Gedankengut keinen Platz haben. Lassen wir es nicht zu, dass Jüdinnen und Juden, Muslima und Muslime, Angehörige der Sinti und Roma sowie alle Menschen mit anderer Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit erneut einen solchen Preis bezahlen müssen.
Vielen Dank.