Rede auf dem Jahresprogramm: Nachhaltigkeit – ein utopisches Ideal!

Rede von Prof. Dr. Christian Berg beim Jahresempfang der Ratsfraktion Kiel von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Kieler Rathaus

Wie bitte? Nachhaltigkeit utopisch, unerreichbar? Was soll das heißen?

Das muss doch ein Druckfehler sein, zumal für einen Neujahrsempfang. Sicher wird es heißen „Nachhaltigkeit – kein utopisches Ideal“– so ein kleines K kann einem schon mal durch die Lappen gehen.

Ein Druckfehler wäre schon ein bisschen peinlich – gerade bei so einer Einladung. Aber die politische Konkurrenz ist davon auch nicht frei. Die NRW-SPD hat im Landtagswahlkampf letztes Jahr damit geworben, dass sie „seid 2010“ 7200 mehr Lehrer eingestellt hat – dumm nur, dass „seid“ dort mit „d“ geschrieben wurde… Offenbar hatte keiner dieser Lehrer die Plakattexte gegengelesen …

Aber nein, ich meine es wirklich so: Nachhaltigkeit ist ein utopisches Ideal.

Hmm – soll das vielleicht ein schlichter Realismus sein? Mit Blick auf die Bundespolitik könnte man das denken: Wenn das so weitergeht, werden wir Nachhaltigkeit nie erreichen! Dass sich zum Beispiel die künftigen Großkoalitionäre de-facto vom Klimaziel für 2020 verabschiedet haben, ist doch nur ein konsequenter letzter Schritt. Noch vor 12 Monaten hat die Bundesregierung in der Aktualisierung der Nachhaltigkeits-Strategie beteuert, sich in Brüssel für strengere CO2-Grenzwerte einsetzen zu wollen. Doch dann schreibt ein Mitglied der Bundesregierung einen Brief an Herrn Juncker, um sich für das Gegenteil einzusetzen. Stickstoffüberschüsse in der Landwirtschaft oder Flächeninanspruchnahme sind seit Jahrzehnten Dauerbrenner – und es werden die selbstgesteckten Ziele mal eben so um 20 Jahre nach hinten zu verschoben. So gesehen ist Nachhaltigkeit völlig utopisch – ist dieser Realismus nicht besser als die Verlogenheit leerer Beteuerungen, die anschließend konterkariert werden?

Vielleicht – aber als Thema für einen Neujahrs-Empfang dann wohl doch eher suboptimal. Denn an einem solchen Abend soll es doch um Ausblick, Aufbruch, Selbstvergewisserung, Mutmachen gehen. Entsprechend frustriert äußerte sich ein Facebook-Nutzer mit Bezug auf das Programm heute Abend. „Geht’s nicht vielleicht noch etwas pessimistischer?“

Vielleicht ist Masochismus der neue grüne Markenkern?

Weit gefehlt! Ich halte Nachhaltigkeit zwar durchaus für ein utopisches Ideal; als solches brauchen wir sie aber dringender denn je. Warum ist sie aber utopisch?

Nachhaltigkeit meint ja bekanntlich, die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation zu befriedigen ohne die der künftigen zu gefährden. Doch was heißt: „künftig“? Nicht: unsere Kinder – oder Kinder und Enkel, sondern künftig. Das ist ziemlich lang.

Wissen wir denn so genau, welche Bedürfnisse künftige Generationen haben? Anfang der 80er Jahre, als die ersten Homecomputer auf den Markt kamen, sagte Bill Gates, „640k ought to be enough for everybody“ – das heißt: 640 kB Speicher sollten für jedermann genug sein. 640 kB Speicher… Und Bill Gates wollte sich damit sicher nicht als früher Prediger von Genügsamkeit outen – sozusagen der erste Suffizienz-Apostel. Er hat sich einfach total geirrt. Schon handelsübliche Rechner haben heute leicht das 10.000 bis 100.000fache dieser Kapazität.

Wenn schon jemand wie Bill Gates in seinem eigenen Fachgebiet auf wenige Jahrzehnte hinaus so gewaltig danebenliegen konnte, wer will dann behaupten, genau zu wissen, was künftige Generationen benötigen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen?

Wer will behaupten, sagen zu können, wie unser heutiges Handeln in 10, in 100 oder vielleicht 1000 Jahren beurteilt wird? Wie kann man sicher sein, dass unser zum Teil hilfloses Bemühen um mehr Nachhaltigkeit nicht später ähnlich dumm aussehen wird, wie heute die frühe Gates-Äußerung?

Manchmal liegen wir mit unseren Prognosen gewaltig daneben.

Und manchmal liegen wir auch mit unseren Maßnahmen gewaltig daneben – selbst wenn sie mit den besten Absichten gewählt wurden!

Allen Savory, ein simbabwischer Ökologe, untersuchte Ende der 60er Jahre die Degradation von Savannenböden. Zunächst dachte er, es wäre der Viehbestand, der Schuld an der Degradation wäre. Er bekam die Genehmigung, auf weiten Flächen den Viehbestand auszuschließen – es wurde schlimmer. Da er nur noch Wildtiere als Ursache annehmen konnte, schloss er darauf, dass die Elefanten an der Verwüstung der Böden Schuld seien müssten. Er befragte Experten aus aller Welt und kam zu dem Schluss, dass die Elefanten die Bodendegradation verursachten. Er erwirkte dann, dass die Regierung insg. Elefanten abschießen ließ, in der Hoffnung, das Problem in den Griff zu bekommen. Doch leider Fehlanzeige: es wurde immer noch schlimmer. Jahre später sagte er, dies sei die „Schmach seines Lebens“, die er mit ins Grab nehmen werde, dass er sich in diesem Fall so getäuscht habe.

Eine Freundin von mir, als Designerin ständig damit beschäftigt, beide Hirnhälften zu aktivieren, war ganz aufgebracht über dieses Beispiel und meinte: das passiert, wenn die Leute nur ihrem Verstand folgen und nicht ihrem Herzen.

Die Welt ist komplex geworden – und kompliziert, und oft sind die Dinge komplizierter als zunächst gedacht:

  • Natürlich ist der Apfel aus dem Alten Land besser als der aus Südafrika; aber die Klimabilanz ist nicht mehr so günstig, wenn er im Mai gekauft wird und bis dahin im Kühlhaus lag;
  • natürlich sollten wir den Fleischkonsum reduzieren – aber es kommt darauf an, was wir stattdessen konsumieren. Wenn man den Vorgaben der FDA (Food and Drug Administration) in den USA folgt, wäre eine vegetarische Diät sogar klimaschädlicher als eine durchschnittliche Ernährung mit Fleisch. Wenn ich z.B. statt Fleisch viele Südfrüchte zu mir nehme, kann das so sein;
  • und natürlich ist „Bio“ besser als konventionell; aber können wir sicher sein, damit acht Milliarden Menschen ernähren zu können?

Diese Komplexität der Herausforderungen macht Politik so schwierig – und so schwer zu vermitteln. Aber ich fürchte, wir müssen diese Spannungen aushalten. Einfache Antworten mögen andere geben, das hilft uns nicht weiter.

Wichtig ist, dass wir nicht den Eindruck vermitteln, als wären die jeweils gerade gewählten Mittel schon selbst das Ziel. Die Mittel bleiben immer vorläufig, versuchsweise; bleiben ein Herantasten an das Ziel, einer idealen, guten, ja perfekten Welt, die wir aber im Hier und Jetzt nie wirklich erreichen werden.

Mitnichten! Denn Nachhaltigkeits-Politik ist Politik mit klarem Kompass für die Ziele! Nachhaltigkeit gibt die Ideale vor, die Ziele – als Kompass ist das Konzept Nachhaltigkeit unersetzlich.

Was folgt daraus für die Politik? Wie muss eine Nachhaltigkeits-Politik aussehen?

  1. Das Wissen um die Vorläufigkeit der Mittel sollte dazu ermahnen, gesprächs- und kompromissbereit zu bleiben und Respekt vor der Einschätzung anderer zu haben. Denn komplexe Herausforderungen brauchen kluge Lösungen, und die ergeben sich oft erst durch das Einbinden vieler Perspektiven.
  2. Zugleich gilt: Im Ziel anspruchsvoll bleiben – und heute schon an morgen denken! Daran zeigt sich nachhaltige, vorausschauende Politik. Wie soll Kiel in 20 Jahren aussehen? Welche Art von Mobilität, welche Wirtschaft, welche Kultur soll diese Stadt dann auszeichnen? Wir haben kürzlich beim Wirtschaftskongress darüber diskutiert, wie man die vielfältigen Kompetenzen und Potentiale rund um das Thema Meer und Ozean noch besser vernetzen und Synergien nutzen kann. Kiel ist sicher auch „sailing city“ – aber reicht das? Kann man nicht die Expertise des Geomar, des Ozean-Exzellenzcluster, die maritime Wirtschaft, den Tourismus und anderes mehr nutzen, um die Stadt als Marke maritimer Nachhaltigkeit zu positionieren?
  3. 3. Wir brauchen, drittens, Mut zum Anpacken; denn das Ideal der Nachhaltigkeit verlangt ganzen Einsatz und beherztes Zupacken; Angst vor Veränderung ist ein schlechter Ratgeber. Im Sinne der Marke maritimer Nachhaltigkeit könnte man doch überlegen, ob Kiel nicht ein Zentrum („Meer Nachhaltigkeit“) schaffen sollte, das die Aktivitäten im Bereich Forschung und Wirtschaft des Meeres und Meeresschutzes einer breiten Öffentlichkeit präsentiert, eine Plattform zur Kooperation darstellt, als Publikumsmagnet für Kreuzfahrer wirkt und die vielen beeindruckenden Aktivitäten im Schnittfeld von Nachhaltigkeit und Meer zu einem Markenzeichen Kiels entwickelt. Dafür müsste man auch Geld in die Hand nehmen, aber das Beispiel Elfi zeigt, dass das gut investiert sein kann.
  4. 4. Wir müssen auch neue Wege gehen, ständig neues ausprobieren, flexibel bleiben. Wir müssen Nachhaltigkeit als Innovationsmotor begreifen. Knappheiten sind Innovationstreiber. Dann kann Nachhaltigkeit zu einem einzigartigen Innovationsboom führen. Wir brauchen ein Gründungsklima, Experimentierräume für Innovationen, ein beständiges Ausprobieren und Erneuern, ähnlich wie es in dem Positionspapier zu Start-up und Kreativpolitik der Ratsfraktion gefordert wird.

Ich komme zum Schluss:

Die Voraussetzungen für eine Nachhaltigkeit- Politik sind gut: der Bedarf ist enorm, die Zustimmung zu diesem Thema ist groß und auf politischer Weltbühne ist das Thema mit der Agenda 2030 verankert. Das ist einmalig in der Weltgeschichte, dass die ganze Menschheit sich auf solche umfassenden, konkreten Ziele geeinigt hat.

Wir werden Nachhaltigkeit nie vollständig verwirklichen können – aber gleichzeitig ist sie als Ideal unverzichtbar.

Eine Politik, die sich daran ausrichtet, muss um die Vorläufigkeit ihrer Mittel wissen, zugleich aber im Ziel ambitioniert und in der Sache zupackend sein und ständig nach neuen Wegen suchen, um das Ziel zu erreichen. Es gibt kein besseres Motto für Politik, als sich am Ideal der Nachhaltigkeit auszurichten.

www.christianberg.net

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