Es gilt das gesprochene Wort!
Liebe Frau Stadtpräsidentin, liebes Präsidium und Ratsversammlung.
Liebe Fraktion DIE LINKE/die PARTEI, danke, dass ihr diesen Antrag eingebracht habt. Das Thema ist unfassbar wichtig. Und warum? Weil Menschen sich Geschichten erzählen. Und wir reden hier heute nicht über Kindergeschichten, sondern über Geschichten von Kindern. Kinder, die heute keine mehr sind. Vielleicht nicht mal mehr im Inneren, weil sie im Alter zwischen 6 und 14 Jahren aufgehört haben welche zu sein. Weil sie es mussten. Auch, um zu überleben.
Wer sich jetzt denkt, ich übertreibe, der stelle sich mal vor:
Von Familie getrennt mit dem Zug und dem Schiff auf eine Insel verschickt. Eine Insel von der man als kleines Kind nicht so schnell fliehen kann. Das Essen schmeckt nicht, aber du musst zunehmen, wirst täglich gewogen. Das Essen schmeckt nicht, du erbrichst etwas und wirst gezwungen es zu essen. Einem Freund ist es so ergangen. Wenn du dich weigerst – noch – mit deinen 6 Jahren, dann wirst du mit dem Gesicht zur Wand in die Ecke gestellt, für eine gefühlt endlose Ewigkeit. Oder mit einem Gegenstand auf die Finger geschlagen. Nachts nässt du dann ein, weil du Albträume hast, ob der Situation, in der du bist, ob der Einsamkeit. Als Strafe dafür musst du nachts eiskalt duschen und wieder Schläge. Briefe werden kontrolliert, zensiert, aussortiert und dann hörst du auf, Briefe zu schreiben. Es hilft dir niemand.
Da würde jede Person hier aufhören Kind zu sein, sonst überstehst du das nicht. Der Körper tut weh, die Seele tut weh, alles tut weh im Kindererholungsheim. Da bekommt der Begriff „Heimweh“ eine ganz neue Bedeutung.
Viele verschickte Kinder kehrten gebrochen und kaputt zurück, sind es teilweise noch heute. Angststörungen, Essstörungen, Depressionen, Alkohol- und Medikamentensucht, nichts musste, aber alles ist gekommen. Deshalb beantrage ich auch die Überweisung in den Ausschuss für Gesundheit, Soziales und Wohnen, zur abschließenden Beschlussfassung.
Am Dienstag habe ich für die Krebsgesellschaft SH einen Kochkurs gegeben und wir haben unter anderem Linsensuppe gekocht und eine Frau Anfang 70 sagte, die Linsensuppe erinnere sie an die Verschickung und sie erzählte davon. Noch nie hatte eine Linsensuppe für mich so sehr nach Traurigkeit geschmeckt, wie an diesem Dienstag. Menschen erzählen sich Geschichten. Sie erzählen sich diese Verschickungsgeschichten an denen Kiel eine Mitverantwortung trägt. Sie erzählen sie ihren Verwandten, Freunden und Bekannten, damit sie nicht vergessen werden. Damit so etwas nicht nochmal passiert. Übrigens auch der Grund, warum wir nicht aufhören dürfen unseren Jugendlichen von den schlimmen Taten der Deutschen im 2. Weltkrieg zu erzählen – aber das ist eine andere traurige Geschichte.
Letzte Woche sagte ein Mitglied der CDU im Ausschuss für Schule und Sport, dass es beim Verkehrsversuch „Schulstraße Skagenweg“ hoffentlich nicht zu Chaos vor der Schranke kommt. Ich wünschte mir, dass das mal ein CDU-Mitglied im Bundestag zum Plan von Alexander Dobrindt bezüglich der Außengrenzen gesagt hätte. Auch daraus werden traurige Geschichten werden.
Und wir, liebe Rats- Kolleg*innen, haben das ehrenvolle Privileg uns mal so richtig die Hände schmutzig zu machen und den ganzen kranken Scheiß der damals unter Kieler Verantwortung passiert ist, mit der Verwaltung, Expert*innen und Zeitzeug*innen ans Tageslicht zu holen und aufzuarbeiten.
Und dabei geht es nicht um Geld für die Betroffenen, sondern um etwas gegen das Vergessen von zugefügtem Leid zu unternehmen. Damit die Geschichten der Betroffenen doch noch eine positive Wendung am Ende nehmen können.
Warum habe ich das alles erzählt?
Weil wir Kindern Geschichten erzählen, damit sie einschlafen und Erwachsenen, damit sie aufwachen.
Vielen Dank!