Tempo 30: „Verkehrskultur des Miteinanders“

„Freie Fahrt für freie Bürger“ – mit diesem Slogan wetterte der ADAC 1974, mitten in der Ölkrise, gegen einen Tempolimit-Großversuch auf den Bundesautobahnen. Doch die automobile „Leitkultur“ Deutschlands gerät ins Wanken. Das beweist nicht zuletzt die Initiative des Deutschen Städtetages, „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“. Die Initiative bekennt sich zur Mobilitätswende und fordert den Bund auf, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Kommunen Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit innerorts anordnen können, wo sie es für notwendig halten.

Prominente internationale Beispiele für einen solchen Schritt sind zum Beispiel Paris oder Barcelona – in allen spanischen Städten gilt seit Mai 2021 Tempo 30 auf den meisten Straßen. Die Landeshauptstadt Kiel will sich der Initiative des Deutschen Städtetages anschließen, und dafür gibt es mindestens sechs gute Gründe:

1. Verkehrssicherheit

Bei Tempo halbiert sich der Anhalteweg eines Autos um die Hälfte im Vergleich zu Tempo 50: 13 anstelle von 27 Metern. Das reduziert die Gefahr schwerer Verletzungen von und von Todesfällen erheblich. Denn auch die Aufprallenergie ist bei Tempo 50 2,8-mal höher als mit 30. Wie viele Unfälle passieren, ist von einer Reihe von Faktoren abhängig – wie schwer die Unfälle ausfallen, hängt maßgeblich mit der Geschwindigkeit zusammen. Und: Tempo 30 verlangsamt die Fahrt in den meisten Städte nicht mehr, da Stopp-and-Go und Baustellen kaum eine höhere Durchschnittsgeschwindigkeit zulassen

2. Lebensqualität

Verkehrslärm stellt in Städten wie Kiel eine erhebliche Einschränkung dar. Eine konstante Regelgeschwindigkeit von 30 senkt die Lärmemissionen um 2 bis 3 dB (A). Das ist objektiv wenig, bedeutet subjektiv aber eine Halbierung der wahrgenommenen Verkehrsmenge. Verantwortlich sind dafür besonders die Reifen-Fahrbahn-Geräusche, die bei Tempo 50 signifikant höher sind. Da sich bei Tempo 30 der Verkehrsfluss laut Untersuchungen signifikant verbessert, gibt es weniger Brems- und Beschleunigungsvorgänge. Dadurch kann der Geräuschpegel sogar um bis zu 8 dB (A) sinken

3. Gerechtigkeit

Von Tempo 30 profitieren alle Verkehrsteilnehmenden! Straßen lassen sich bei niedriger Kfz-Regelgeschwindigkeit leichter überqueren, besonders Auto- und Radverkehr harmonieren besser, die Kommunikation wird erleichtert. Im besten Fall kommt es zu einer „Verkehrskultur des Miteinanders“, wie der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) hofft

4. Mobilitätswende

Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit beeinflusst maßgeblich die Verkehrsmittelwahl. Eine verbesserte Umfeldqualität im Straßenraum machen zu Fuß gehen und Radfahren attraktiver. Das ist umso wichtiger, weil sich derzeit ungefähr die Hälfte aller Radfahrenden im Straßenverkehr unsicher fühlt. Das Phänomen der „Elterntaxis“ hat viel mit den Sorgen um Sicherheit zu tun. Tempo 30 könnte dazu führen, dass mehr Kinder z.B. mit dem Rad zur Schule fahren und damit in Sachen Mobilitätsverhalten anders sozialisiert werden

5. Klarheit

Weniger wechselnde Temporegelungen werden in Städten zu mehr Übersichtlichkeit und Klarheit führen. Von einem Ende des Flickenteppichs profitieren alle Verkehrsteilnehmenden – auch, weil es dann in Zukunft weniger Verkehrsschilder brauchen wird. Das (Schilder)Waldsterben befürworten auch die Grünen

6. Luftqualität

Die reduzierte Regelgeschwindigkeit wird sich auch auf die Luftqualität auswirken. Messungen in Städten mit Tempo 30 haben ergeben, dass die Stickstoffdioxid-Werte (NO2) sinken. Geringere Geschwindigkeiten sorgen zudem für weniger Verwirbelungen von Feinstaub in der Atemluft. Noch entscheidender: Bei Tempo nimmt der Kfz-Verkehr insgesamt ab, weil sich mehr Menschen auf kürzeren Strecken für Fuß- oder Radverkehr entscheiden. Weniger Kfz = weniger Schadstoffausstoß.

Dabei unterstützen wir ausdrücklich eine Evaluation dieses Versuches, bei dem besonders zwei Fragen beantwortet werden müssen: Welche Auswirkungen hat Tempo 30 auf den ÖPNV? Kommt es tatsächlich zu einer Verdrängung des Verkehrs in Nebenstraßen?

Auf jeden Fall soll die Initiative des Deutschen Städtetages Kommunen durch Gesetzesänderungen die Möglichkeiten geben, besser über ihr Verkehrsgeschehen zu bestimmen. Die Fachleute für Kieler Straßen sitzen nun einmal in Kiel. Am Ende geht es auch darum, sich von einer Mobilitätskultur zu verabschieden, die bislang zu sehr auf das Automobil ausgerichtet ist. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass Deutschland als Land der Dichter und Denker und nicht der Raser und Autolenker wahrgenommen wird!

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